Meine Hommage an Les Misérables – und ein wenig auch an Anne Hathaway

(Februar 2013)

(Hörversion am Ende des Texts)

Gänsehaut schon bei der allerersten Filmeinstellung, als die Musik einsetzt. Diese Musik, die ich so gut kenne, so sehr liebe. Eine Packung Taschentücher ist vorsorglich eingepackt, wenn sie auch in den kritischen Momenten nicht griffbereit sein wird. Mein Spiegelbild nach dem Kinobesuch wird verwischte Wimperntusche zeigen. Was ist los? Heute ist mein Tag, um Les Misérables zu sehen.

 

Wie immer bei diesem Musical, das – gefühlt – eine Oper ist, haben sich bei mir die Schleusen geöffnet. Und das, obwohl Russel Crowe definitiv besser als Gladiator denn als Inspektor Javert ist. Was nicht unwesentlich mit Crowes musikalischem Talent zu tun hat. Russel, bitte verzeih, aber Du vermasselst die Javert- Arien! Und vor allem mein Lieblingslied Sous les Etoiles (Stars). Das Lied ginge unter, wenn der Regisseur nicht, clever genug, immer wieder die bombastische Kulisse im nächtlichen Paris zeigen würde. Und Dich, Russel, singend, aber im Close-up Deine Füsse zeigen würde. Füsse, die in schwindelerregender Höhe am Rand der Aussichtsplattform entlang balancieren, während Du dieses grandiose Lied brummelst.

 

Anne Hathaway. Das Prada-Teufels-Girl. Zartes Hollywood-Wesen. Ich hatte keine rechte Meinung zu ihr bisher. Ihr Lied als Fantine jedoch, nachdem ihr die Haare geschoren und ein Zahn gezogen wurden, damit sie Geld für ihre Tochter auftreibt … und schliesslich sogar Geld anschaffen geht … dieses Lied, bei dem die Kamera etwa fünf Minuten ununterbrochen, frontal und äusserst intim auf ihr Gesicht gerichtet ist. Dieses Lied fährt mir ein. Hathaway/Fantine singt sich ihr Leid um ihr elendes Leben, ihre Sorge um Töchterchen Cosette von der Seele. Und ich kann in diesem feinen Gesicht lesen – in den Augen, den Stirnfalten, den rötlichen Wangen. Jede einzelne Gefühlsregung, jedes Mü ihrer Gefühle gibt sie preis, durch Mimik, Stimme und durch ihren Gesang. Bravo, Anne!

 

Meine Gedanken schweifen kurz ab, hin zu dieser Bewunderung für gewisse Schauspieler, für gewisse Sänger. Zeigen sie uns nicht, wie’s sein kann? Sie gehen auf die Bühne, zeigen sich, gehen aus sich heraus. Klar spielen oder singen sie meist eine Rolle. Aber in dieser Rolle gehen sie auf. Sie leben sie, verschmelzen damit. Und dann kann eine Anne Hathaway mein Herz berühren und ein Russel Crowe nicht. Hathaway hat die Rolle der Fantine gewählt. Und alles ist da. Liebe, Leid, Trauer. Ein Leben.

 

Hoffentlich kriegt Anne Hathaway heute Abend den Oskar für die beste weibliche Nebenrolle. Sie trägt wohl die Haare immer noch kurz. Hat sich tatsächlich für die Rolle der Fantine die Haare abschneiden lassen. Es steht ihr gut, sehr gut sogar. Die kurzen Haare, das zarte Wesen, die Rehaugen – all das gibt ihr jetzt diesen Hauch von Audrey Hepburn. Anne Hathaway, Du bist bei mir angekommen. Dankeschön für diesen grossen Kinomoment, in dem Du Dein Gesicht nackt ausgezogen hast.

 

Drei Mal war ich in Paris in Les Mísérables in den Jahren 1991 und 1992, als es im Theater Mogador aufgeführt wurde. Drei Mal hab ich geweint vor Mitfühlen, Mitleiden, Mitfreuen – und mit mir ergriffen war meine Schwester. Die mich ganz bestimmt drei Mal besucht hat, um drei Mal Les Misérables mit mir anzusehen. Drei Mal hat’s uns total gepackt. Bei der letzten Vorstellung sind wir sogar noch auf die Pirsch nach Autogrammen gegangen, leider vergeblich. Bin so gespannt, wie Annette der Film gefallen wird!

 

Von diesen grandiosen Pariser Aufführungen stammt auch die CD, die ich jahrelang gehört hab. Und die irgendwann verschwunden ist. Bis die Musik just vor zwei Wochen wieder aufgetaucht ist, als ich sie auf iTunes gesucht und glücklich erworben hab. Seitdem gehe ich stumm mitsingend und auch schon mal im Takt der Musik die lange Strasse runter zur Tram. Nicht genug kriegen kann ich von dieser wunderbaren Musik, die zwar Musicalmusik ist. Aber eigentlich doch viel mehr.

 

An zwei Stellen im Film war ich so ergriffen, dass mein ganzer Körper im Stress war, um mir die Peinlichkeit zu ersparen, laut zu schluchzen. Leise weinen ist ja nicht schlimm  – um mich rum raschelt das Zellophan, weil so viele Hände zu den Papiertaschentüchern greifen. Der Mann neben mir setzt am Ende der Vorstellung gar die Brille ab und reibt sich die Augen trocken. Leise Tränen sind in Ordnung, aber lautes Schluchzen, das geht nicht. Also abfangen, abbremsen: Ich krieg’s knapp hin mit Hilfe der Atmung. Tief durchatmen! Wärme breitet sich in meinem Körper aus, als ich den Schluchzer weg atme. Aber es funktioniert. Ich bleibe unauffällig.

 

Ich hab Les Misérables ein viertes Mal in London aufgeführt gesehen. Auf Englisch also. Englisch funktioniert … aber wenn man die französische Version kennt, ist klar, dass das die Originalsprache für die Musik gewesen sein muss. Im Französischen passt jedes Wort zur Musik. Oder berührt nur mich das stärker, weil ich diese Sprache, das Französische, so liebe? Weil ich als Studentin in Paris bereits dahingeschmolzen bin. Und weil misérable nun mal ein französisches Wort ist, der Roman von einem Franzosen geschrieben, internationale Weltliteratur!

 

Les Misérables berührt mich schon immer. Durch die Musik. Durch die Personen in ihrem Elend und ihrem Glück. In ihrer Überzeugung. In ihrer Leidenschaftlichkeit. Ich glaube, das ist es. Diese Leidenschaft. Sie leiden. Sie lieben. Sie glauben an etwas. Sie sind stark. Alle. Ob gut oder böse. Starke Persönlichkeiten. Sie leben – selbst wenn im Elend. Sie leben!

 

Der Film ist aus. Am liebsten würde ich alle zurückgehaltenen Tränen jetzt laut ausweinen. Aber langsam reicht’s. Schluss jetzt! Während noch der Abspann läuft, stöpsele ich mir jedenfalls die Ohrstecker ein, drücke auf dem iPhone auf Les Misérables, Paris 1991 und wünsche mir, den Film gleich nochmal ansehen zu können – am liebsten mit den französischen Stimmen zu diesen wundervollen englischen Bildern.

 

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Les Miserables (Hörversion)
Les Miserables.m4a.mp4
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