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Karma in Budapest

 

Kerzengerade sitzen wir auf den Besucherstühlen der Polizeiwache im Parlamentsdistrikt von Budapest. Ellen hat mich ermahnt, nicht in meiner Tasche zu kramen und ja nicht das Handy zu benutzen. Wir seien hier in einem ehemaligen Ostblockland. Der ungarische Polizeioffizier, der uns zögerlich hereingelassen hat, spricht nur ein paar Brocken Englisch. Maja füllt an einem Tisch stoisch das Formular aus, das es abzustempeln gilt: Diebstahl der Brieftasche - inklusive Reisepass, Führerschein, Kredit- und EC-Karte sowie Bargeld, alles halt!

 

Apero am Samstagnachmittag

 

Ein abwechslungsreicher Tag liegt hinter uns mit Spaziergang durchs jüdische Viertel mit seinen unendlich vielen Cafés, Reinschauen in eines jener Ruinenlokale, das Lea nicht ganz zufällig entdeckt hat. Die grosse Synagoge ist leider heute geschlossen - ach ja, ist ja Sabbat. Schade für uns.

 

Ein Kaffee hier. Ein Stück Gerbeaud-Torte - oder halt herzhaft für Maja - dort. Es ergibt sich ganz selbstverständlich - halb geplant, halb zufällig. Bei uns vieren passt’s immer. Und eine gute Portion des Nachmittags spielt sich in Schuhgeschäften ab, denn Maja will ihre Turnschuhe ersetzen. Sie finden denn auch ihre vorläufig letzte Ruhestätte in einem Papierkorb auf der Einkaufsstrasse Váci Utca. Die neuen schwarzen Sneakers sehen gut aus. 

 

Danach noch ein kurzer Abstecher in den „Paprika Market“, einen riesigen Souvenirshop, gleichfalls an der Einkaufsmeile. Maja stürzt rein und zieht ein rotes, riesengrosses Sweatshirt mit Blumenmuster vorne drauf unter der unvermeidlichen Überschrift „Budapest“ heraus. Meint sie das ernst? Von ihrer Assistentin aus Hamburg beraten, probiert sie zwar noch eine kleinere Grösse an, entscheidet sich schliesslich aber für Oversize und zieht entschlossen zur Kasse! 

 

Wie schön ist’s jetzt am Abend an der Donau. Langsam geht die Sonne unter. Ellen und Maja voran, trödle ich fotografierenderweise mit Lea hinterher. Viel ist los hier am Ufer. Es war ein warmer, sonniger Sommertag Ende Oktober. Das Sonnenlicht bereitet nun die Übergabe an die Lichtinszenierungen am gegenüberliegenden Ufer vor: Links erstrahlen die mächtigen Pfeiler der Kettenbrücke in grünlichem Schein. Gegenüber thront der prächtige Burgpalast,mit seiner riesigen Kuppel. Und ein Stück weiter rechts erfreut die disneyhafte Fischerbastei das Auge mit dem beleuchteten Kirchturm der Matthiaskirche. Dazu kommen auf unserer Seite all die Donauschiffe, deren Kreuzfahrer noch auf Landgang sind. 

 

Und was ist das? Dutzende von Schuhen stehen verlassen wenige Meter von uns entfernt am Donauufer. Direkt an der Kante der Uferpromenade - mehrere Meter lang, ein schmaler Streifen voller einsamer Schuh-Paare, die so stehen, als seien die Schuhbesitzer direkt ins Wasser ... gesprungen? Und wir erkennen: Das Monument zur Erinnerung an die Erschiessung ungarischer Juden gegen Ende des zweiten Weltkriegs befindet sich genau hier. An der Donau, genau hier haben die Morde stattgefunden. Gegenüber der Fischerbastei. Wir freuen uns bewegt, es sehen zu können. Andächtig verweilen wir lange dort, bzw. Maja erteilt am Donauufer Auskunft an ihre Tochter zuhause, wo der dringend gesuchte Impfausweis sein sollte. 

 

Weiter geht’s zum imposanten Parlament, das wir gestern bei unserem Ausflug drüben auf die Buda-Seite, hoch zum Burgpalast und weiter durchs Burgviertel zur Fischerbastei, schon gar fleissig abgelichtet haben. Ein riesiges, prächtiges Gebäude ist dieser Sitz des ungarischen Parlaments - eines der Wahrzeichen von Budapest.

 

Doch nun ist mal gut! Nachdem ich mehrmals das Wort ‚Apero‘ habe fallenlassen und in Maja die erhoffte Unterstützerin gefunden habe, landen wir in den bequemen Ledersesseln des Interconti mit herrlichem Blick auf die Donau und die weltberühmten Illuminationen gegenüber. Welch schöner Tag, welch schönes Freundinnen-Wochenende! Heute müssen Aperol-Spritz bzw. ein lokaler „Champagner“, wie die Kellnerin ihn nennt, herhalten. Unser letzter Abend in Budapest. Wir strahlen beglückt vor uns hin. Maja freut sich besonders und lädt spontan zu diesem Apero ein. Wir danken und plaudern weiter. Maja sucht.

 

Dunkler Schatten über der Donau

 

Das Geld. Maja sucht ihr Portemonnaie. Sie findet ihre Brieftasche nicht. Alles war im Rucksack, zusammen mit dem voluminösen Sweatshirt. Portemonnaie verschwunden. Geklaut - sagt Maja. Bestimmt im Rote-Sweatshirt-Paprika-Laden vergessen - hoffe ich.

 

Wir klappern alles ab: Den Laden. Den Weg an der Donau entlang. Rund ums Parlament. Kein Portemonnaie. Viele Telefonate - Kreditkarte, EC-Karte, Ehemann, Bruder. Maja bleibt ruhig. Ich bewundere sie. Müde sind wir alle. Doch wir müssen noch zur Polizei. Ellen managt die Logistik und den Ablauf. Lea tun die Knie weh, doch sie bleibt tapfer bei der Gruppe. Mehr noch als die Beine plagt sie ihre Blase - ob es bei der Polizei wohl ein Klo gibt? 

 

Ja, gibt ein Klo. Doch Vorsicht, keine vorschnellen Aktionen bei dem ungarischen Polizisten. Eine englischsprechende Kollegin wird dazugenommen. Man telefoniert mit der deutschen Botschaft, die samstagabends nicht zu Diensten ist. Kommt Maja morgen ohne ihren Pass hier raus? Jetzt erst mal das polizeiliche Dokument bestätigt kriegen. Dann raus hier. 

 

Müde, hungrig und ungewohnt schweigsam fahren wir mit dem Taxi zum Hotel zurück. Das Hotelrestaurant ist noch geöffnet, doch nix ist mehr da zum Essen. Wir plündern die Minibar nach Rücksprache mit dem Restaurant und stopfen uns schliesslich im 7. Stock Nüsse und Schokolade rein für die Nerven. Alkohol fürs Gemüt. Erst als die Chipstüten sich als weit älter als das Verfallsdatum herausstellen, erwecken wir hochverdientes Mitleid: Das frische Brot mit Oliven und Olivenöl, das doch noch auftaucht, schmeckt köstlich. Der Wein geht sogar auf Kosten des Hauses. Es sei ja nur Geld, ein Diebstahl, lerne ich von Maja - nichts Wichtiges. Lasst uns schlafen gehen, Mädels. Gute Nacht.

 

Flugverkehr am Sonntag

 

„Habe Ticket nach Budapest gebucht. Bringe Dir den Personalausweis.“ Textet Markus, der bei einer Fluggesellschaft arbeitet, seiner Frau am nächsten Morgen. Und erobert damit drei weitere Frauenherzen. Als Ellen beim Frühstück ausspricht, dass diese Aktion eine romantische Seite habe, stehen vier hocherwachsenen Frauen die Tränen in den Augen. Das unschöne Diebstahl-Erlebnis enthält wundervolle Momente. Einig sind wir uns mittlerweile über den Tatort - der Dieb muss in dem Moment zugeschlagen haben, als Maja telefoniert hat an der Donau, beim Schuhdenkmal mit all den Touristen, und als sie den Rucksack vielleicht unaufmerksam neben sich stehen hatte. 

 

Der Abschied kommt. Hamburg und Zürich starten bereits am frühen Nachmittag. Frankfurt hat mehr Zeit und geniesst sein Rendezvous mit Personalausweisüberbringer Markus. Alle drei Passagiere finden Platz in der Abendmaschine nach Frankfurt. Maja wird morgen mit dem Gang zu den Ämtern beginnen, um ihre Dokumente neu zu beantragen. Und trotz des Diebstahls war’s ein sehr schönes Wochenende mit uns vier Frauen in Budapest. 

 

Das Wunder vom Donauufer

 

Eva Grosser drückt um 11:15 h auf „Senden“ ihrer Mail mit dem Betreff „Wallet found!“ Darin erwähnt sie Gäste aus Malaysia, denen sie ihr Appartement vermietet habe. Gäste, die am Vorabend am Donauufer entlang spaziert seien. Gäste, die eine Brieftasche mit Inhalten gefunden, sie eingesteckt und an Eva weitergegeben hätten. Mit der Bitte, die Ware an die rechtmässige Besitzerin auszuhändigen. Eva hofft, dass Maja noch im Land ist. 

 

Montag in der Diakonie Frankfurt

 

Maja liest ungläubig die Mail und ruft fassungslos Eva an. Die Brieftasche mit dem gesamten Geld ist in Budapest abgegeben worden. Maja will kein Risiko eingehen und wird nächste Woche zurück nach Budapest fliegen, um das Gut persönlich abzuholen. Eva, meint sie, solle sich doch bitte einen Prozentsatz des Geldes als Finderlohn nehmen: „Oh no“, lacht Eva am Telefon, „I believe in Karma.“

 

Vier Frauenherzen hüpfen vor Freude und Dankbarkeit. 

 

Café Frei in Budapest am Samstag

 

Mit einem besonderen Armbändchen und Bethmännchen im Gepäck fliegt Maja am Samstag früh nach Budapest. Eva stellt sich als eine schöne junge Frau heraus. Sie habe eine jüdische Grossmutter, daher der Name. Wie stolz darf die Oma auf ihre Enkelin sein, denken wir. Und sind verzaubert von der jungen, weisen Frau aus Budapest. Und von dem unbekannten Paar aus Malaysia.