· 

Ich bin Alt - mon Dieu

 

Ein Tag des Glücks - unter lieb-fremden Menschen, mit Blick fast immer auf die ligurische Küste, vereint im Wunsch zu singen ... oder es wenigstens zu versuchen.
Morgens gemeinsame Stimmsuche mit Sarah auf einer Lichtung im Wald. Man schüttelt sich, man rüttelt sich. Es endet damit, dass wir im Kanon ein Lied singen und von Musik und Spass durchflutet die Stufen zum Hotel hinunter tänzeln.
Wer singt hier im Haus eigentlich so wunderschön? Ein klassisches Lied. In der Kapelle im ersten Stock. Zauberhaft.
Dann hört sich Charlotte am Klavier uns insgesamt vier Frauen an, die ihr unbekannt sind. Ziel ist die Stimmlagen-Bestimmung und Einteilung für den gemeinsamen Chor. Über die ersten zwei Zeilen des vorbereiteten Liedes "Mon Dieu" von 'meiner' Edith, la Piaf, komme ich kaum heraus: "Du bist Alt!" 
Die Zeit drängt, und so habe ich nur kurz Gelegenheit, durch die geöffnete Balkontür und weit über Montallegro und Rapallo hinaus das in der Ferne sichtbare Portofino anzuflehen: "Mon Dieu, laissez-le moi un peu."
Eine Stunde Feldenkrais-Körperarbeit bei Martin, Charlottes Mann, bringt die totale Entspannung, bevor uns Gianlucas Köche ein lukullisches Mittagsmahl servieren. Für die Siesta bleibt keine Zeit, weil Tillmann uns direkt einführt zur Stimmarbeit nach Linklater. 
Und dann wird's richtig voll im Saal, denn jetzt probt er zum ersten Mal - unser Chor!
Kilian sitzt vorne am E-Klavier. Zu seiner Linken werden die Sopranistinnen platziert. Dann kommt unser Grüppchen der Altistinnen. Zu Marianne als Tenor gesellen sich Charlotte und Stephanie. Und in der Ruhe liegt die Kraft, hocken Martin und Tillmann kerzengerade auf der Bank daneben und halten die Noten konzentriert in der Hand.
Wir singen Tessiner Volkslieder. Viele von uns können kein Italienisch. Einige kommen hierher als Nicht-Sänger. Vereinzelte waren noch nie in einem Chor. Wie beispielsweise ich. Und so lasse ich das Schauspiel auf mich wirken! 
 
Vorsprechen des Textes von Kilian, wir quatschten es nach. Dann singt der Sopran und wir im Alt. Erst nacheinander reihum, dann zusammen. Im Sitzen, später bei einem lustigen Lied im Walzertakt ("Bellabimba") stehen wir auf und bewegen uns, tanzen im
Dreivierteltakt. Wie viel Energie geht eigentlich in so einen Raum? 
Zwischendurch weist Kilian die verschiedenen Gruppen stimmlage-entsprechend hoch oder tief ein, was besonders bei seinem Sopran herzallerliebst klingt. Ich hätte gerne eine Live-Cam hier. Die Bässe immer noch stoisch auf ihrer Bank, Charlotte dem Chorleiter Kilian, ihrem Sohn, Anweisungen gebend und sich köstlich amüsierend. Lisa verzaubert mich mit ihrer himmlischen Alt-Stimme an meinem linken Ohr, singt mir vor, nimmt mich mit. Und am Ende dirigiert noch Sarah im roten Kleid und wiederholt mit uns den fröhlichen Kanon von heute Morgen.
Ich bin erfüllt, um nicht zu sagen berauscht. 
Nach kurzer Verschnaufpause finde ich mich bei Charlotte wieder. Neben mir sitzen die entzückenden jungen Frauen Delia und Chantal. Beide Sopran. Und Charlotte sucht uns ein dreistimmiges Lied von Brahms raus, "Ich hab die Nacht geträumet", das wir nun im Ensemble proben werden. Zum Glück habe ich keine Zeit zum Nachdenken. Mich einfach nur an den wunderbaren Stimmen der Sopranistinnen erfreuen und hoffen, dass das Klavier und Charlotte mich durch dieses unbekannte, unwegsame Gelände bringen. Mehrfach verpufft mein Atem vor Satzende. Woraufhin mir klar gesagt wird, an welchen Stellen ich atmen könne - es hilft. Die Experten sind freundlich zu mir. Und alle haben wir Spass! "Nein, wirklich, ich habe nie gesungen."
Es folgt zum Tagesabschluss die Einzelstunde bei Sarah im Zimmer mit der grünen Couch. Selbstverständlich spielt auch Sarah - Charlottes Tochter - Klavier. Sie spielt an, nach wenigen Takten fordert sie mich auf, einfach weiter zu singen. Und ich schmettere meine Piaf los. Kenne das Lied seit immer, wenn ich's bis zu diesem Kurs auch nie gesungen habe. Ich weiss, dass es ein bisschen auch mein Lied ist, und ich singe es halt mit meiner Stimme und dem, was dazu gehört. Ich liebe es, dieses Lied.
Sarah tanzt und wirft mir Herzchen zu, Delia kommt aus dem Nebenzimmer und fängt an zu weinen. Ich sehe, höre, fühle, verstehe es aber nicht. Ich will nur, dass das hier real ist, aber vielleicht hab ich es nur geträumt? 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0